Anna in den Medien

Bieler Linke zu ihrer Forderung: «Wer arbeitet, muss seinen Lebensunterhalt finanzieren können»

Die SP bringt das Anliegen nach einem Mindestlohn auf das politische Parkett. Viele Fragen dazu sind offen.

Serviceperson, die zwei Getränke an den Tisch bringt in einem Aussencafé
Das Gastgewerbe und der Detailhandel sind Beispiele für Branchen, in denen der Lohn oft sehr tief ausfällt. Die SP will das in der Stadt Biel mit einem Mindestlohn ändern. Bild: Keystone

Keiner soll mehr arbeiten müssen und am Ende des Monats trotzdem zu wenig Geld zum Leben haben. Die Städte Winterthur und Zürich haben gerade mit einer deutlichen Mehrheit Ja gesagt zu einem Mindestlohn. In Zürich bedeutet das, dass Firmen ihren Angestellten künftig im Minimum einen Stundenlohn von 23.90 Franken bezahlen, in Winterthur sollen es 23 Franken in der Stunde sein. 

Wie hoch ein Mindestlohn ausfällt, ist also von der Region abhängig. In der Schweiz haben einige Kantone den Mindestlohn bereits eingeführt (siehe Infobox). Erst kürzlich hat der Bieler Gemeinderat gesagt, dass städtische Angestellte nicht weniger als 4000 Franken im Monat verdienen dürfen. Betroffen sind 84 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nun Ende Monat etwas mehr Geld auf dem Konto haben.

Was in Winterthur, Zürich und bei den städtischen Angestellten in Biel funktioniert, soll jetzt auch für alle, die auf Bieler Boden arbeiten, gelten. Das zumindest fordert die SP und der PSR in einem aktuellen Vorstoss, den die beiden Fraktionen in der Stadtratssitzung vom Mittwoch einreichen werden.

Für Bieler Erwerbstätige sollen also 23 Franken Stundenlohn oder im Minimum 4000 Franken monatlich in einem Vollzeitpensum gesetzlich vorgeschrieben sein. Davon ausgenommen wären Praktikanten- und Lernenden-Löhne. «Wer arbeitet, muss mit dem Lohn seinen Lebensunterhalt finanzieren können», sagt die Bieler SP-Stadträtin und SP-Vize-Fraktionspräsidentin Anna Tanner. Der Vorstoss wird unterstützt durch den PSR und einzelne Vertreter der Juso, der Grünen und der PdA.

Weil das Leben aber immer teurer werde, reichten Löhne unter 4000 Franken laut Tanner eben nicht mehr, um damit alle Rechnungen zu begleichen. Die Krankenkassenprämie, Arztrechnungen und die Miete bleiben dann als Folge unbeglichen. «Die Zahl der verschuldeten Menschen nimmt laufend zu, was sich am Ende auf die Steuerzahler, sprich die Allgemeinheit auswirkt», sagt die Politikerin weiter. Der Vorstoss soll laut der Politikerin entsprechend dazu beitragen, die Armut in Biel zu bekämpfen. 

Co-Präsidentin der PSR-Fraktion im Bieler Stadtrat, Joseline Stolz (PSR), sagt ebenso: «Nachdem der Mindestlohn für die Verwaltungsangestellten in Biel eingeführt wurde, erscheint es uns nur logisch, dass man diesen auch für alle anderen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in der Stadt realisiert.»

In fünf Kantonen gibt es den Mindestlohn bereits: 

  • In der Stadt Genf haben Ende September 2020 58 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für die Einführung eines Mindestlohns gestimmt. Jeder, der im Kanton Genf arbeitet, sollte einen Stundenlohn von mindestens 23.14 Franken erhalten 
  • Damit hat Genf die höchsten Mindestlöhne der Welt 
  • Ebenfalls gibt es einen gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn in den Kantonen
    Neuenburg, Jura, Tessin und Basel-Stadt
  • Die Höhe des Mindestlohns unterscheidet sich von Kanton zu Kanton 

SP will: Oben kürzen, unten erhöhen

Doch wie soll die Forderung nach einem Mindestlohn genau umgesetzt werden? Und wer zahlt am Ende die höheren Löhne, bei der eine Angestellte in einem McDonald’s-Restaurant in Biel vielleicht mehr verdienen würde als eine in Lyss? Für die SP-Vertreterin Tanner sieht die Lösung folgendermassen aus: «Wenn sehr hohe Löhne gekürzt würden, könnten die zu tiefen Löhne erhöht werden.» Wie dies am Ende genau kontrolliert würde, müsse sich dort zeigen, wo der Mindestlohn bereits Realität sei. Etwa in der Romandie. «Dort kann man nun schauen, welche Erfahrungen gemacht werden», sagt Tanner.

Was halten Wirtschaftsvertreter von einer solchen Idee? «Aus Sicht der Wirtschaft ist eine solche Regelung unnötig, insbesondere, weil sie auf Gemeindeebene daherkommen soll», sagt Fabian Engel. Er ist Präsident des Handels- und Industrievereins Biel-Seeland/Berner Jura, einer Sektion des Handels- und Industrievereins des Kantons Bern und des Verbands der Berner Arbeitgeber. 

Laut Engel regelt sich die Lohnfrage in Zeiten des Fachkräftemangels von allein: «Heutzutage finden Sie kaum Arbeitnehmer mehr, die für unter 4000 Franken brutto im Monat arbeiten», sagt der Geschäftsleiter der Engel AG, zu der auch ein Detailhandelsbereich gehört. Eine unnötige zusätzliche Regulierung würde laut Engel nur Kosten verursachen. 

Beim Volk komme eine solche Forderung vielleicht gut an, weil es attraktiv klinge. 

Miriam Stebler ist die Präsidentin der Bieler KMU. Was die einzelnen Unternehmen über den Mindestlohn denken, kann sie nicht sagen. «Doch meiner Meinung nach ist diese Forderung gefährlich, weil sie den bestehenden Fachkräftemangel noch verstärkt», sagt sie. Dann nämlich, wenn man gar nicht mehr dazu motiviert werde, die Ausbildung oder die Weiterbildung abzuschliessen, weil man den Mindestlohn sowieso erhalte. 

Stebler ergänzt Engel in folgendem Punkt und sagt: «Es gibt noch immer Branchen, in denen Angestellte sehr wenig verdienen. Als Beispiel fallen mir Floristinnen ein. Allgemein zahlt der Detailhandel tiefe Löhne. Doch hier muss der Branchenverband reagieren und nicht eine Gemeinde.» Stebler kritisiert generell, dass die Forderung eines Mindestlohnes auf kommunaler Ebene daherkommt. 

Bei der SP und dem PSR ist man hingegen zuversichtlich, dass der politische Vorstoss gute Chancen hätte, vom Volk gutgeheissen zu werden. Einerseits, weil es immer mehr Betroffene gibt, bei denen Ende Monat das Geld nicht reicht, andererseits, weil man solidarisch mit anderen sein will, wie Anna Tanner sagt.  

28.06.2023 – Ajour.ch: Bieler Linke zu ihrer Forderung: «Wer arbeitet, muss seinen Lebensunterhalt finanzieren können»
Deborah Balmer