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Anna in den Medien

Anna Tanner zum feministischen Streik: «Gleichstellung ist auch Gewaltprävention»

Am 14. Juni ist feministischer Streiktag. Im Interview erklärt Anna Tanner (SP), warum die Gleichstellung noch lange nicht erreicht ist. Und übt auch Kritik an der Stadt Biel.

Anna Tanner vor grauer Betonwand, die Hand zur Faust geballt mit violettem Poster des Frauenstreiks vom 14. Juni

«Es sind immer noch viel zu viele Frauen von häuslicher Gewalt betroffen»: Anna Tanner, SP-Stadträtin. Quelle: psj/a

Anna Tanner, Sie rufen am 14. Juni in Biel zum Frauenstreik auf. Braucht es den feministischen Streik denn überhaupt noch?

 Anna Tanner: Ja, den braucht es noch. Die Gleichstellung der Geschlechter ist noch lange nicht erreicht. Alles, was wir am grossen Frauenstreiktag 2019 thematisiert haben, ist heute noch aktuell. Zwischen Frauen und Männern herrscht immer noch keine Lohngleichheit. Der Grossteil der unbezahlten Sorgearbeit wird immer noch von Frauen geleistet. Und es sind immer noch viel zu viele Frauen von häuslicher Gewalt betroffen.

Wo sehen Sie das Hauptproblem für diesen Stillstand?

In der sozialen Wahrnehmung. Einerseits ist der Öffentlichkeit noch zu wenig bewusst, dass Frauen und Männer tatsächlich ungleich behandelt werden. Anderseits werden wir im Alltag immer wieder neu mit den traditionellen Geschlechterrollen konfrontiert. Das Bewusstsein für queere Themen ist nicht vorhanden. Vor allem die Werbung bedient sich gerne bei Stereotypen wie der Hausfrau, der Frau als Sexsymbol oder dem starken Mann. Beide Umstände bremsen den Fortschritt der Gleichberechtigung.

Kann ein Frauenstreik da überhaupt etwas ausrichten?

Ja, natürlich. Weil der Frauenstreik die Leute dazu bewegt, darüber zu reden. Nur wenn diese Themen immer wieder in der Öffentlichkeit thematisiert und diskutiert werden, kann ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass die in den Medien gezeigten Geschlechter-Stereotypen nicht der Realität entsprechen und der Gleichberechtigung schaden.

Im Aufruf zum feministischen Streik des Bieler Organisationskomitees werden viele Forderungen gestellt – welche sind am dringlichsten?

Was als dringlich empfunden wird, ist oft sehr persönlich. Für den diesjährigen 14. Juni ist es aus Sicht der Gewerkschaften die Gleichstellung am Arbeitsplatz. Es geht da nicht nur um Lohngleichheit. Der Arbeitsplatz ist ein Ort, an dem man viele Probleme der Gleichberechtigung antrifft. Von der angemessenen Vertretung von Frauen in Kaderpositionen und Verwaltungsräten bis zum Mangel an Teilzeitstellen. Leider auch Belästigung und sexualisierte Gewalt. Gleichstellung ist auch Gewaltprävention.

Gerade diese Themen werden bereits seit Jahrzehnten thematisiert, ohne dass sich etwas verändern würde…

Stimmt. Aber das war auch beim Frauenstimmrecht und anderen sozialen Errungenschaften so. Soziale Anliegen müssen lange thematisiert und diskutiert werden, bis sich das gesellschaftliche Bewusstsein so weit verändert hat, dass sie mit einer gewissen Selbstverständlichkeit wahrgenommen und akzeptiert werden. Erst dann ist die Gesellschaft bereit für nachhaltige Veränderungen.

In der Schweizer Politik hat es so viele Frauen wie noch nie. Trotzdem geht es mit der Gleichberechtigung nur schleichend voran – machen Ihre Kolleginnen einen schlechten Job?

(Lacht) Nein, so würde ich das wirklich nicht sagen. Politische Prozesse sind langsam. Trotzdem konnte auf nationaler Ebene bereits eine Veränderung des Sexualstrafrechtes erreicht werden – gegen massiven bürgerlichen Widerstand. Auf kantonaler Ebene konnte das Gesetz für die Opferhilfe beeinflusst werden. Solche Erfolge sind nur möglich, weil der Frauenanteil in der Politik gewachsen ist und viele Politikerinnen bei Frauenfragen parteiübergreifend am selben Strick ziehen.

Dann sehen Sie also auch positive Entwicklungen in Sachen Gleichberechtigung?

Ja, aber nicht genug. Wir haben nach wie vor eine unbefriedigende Regelung für die Frauenrenten, viele Erwerbseinkommen reichen nicht zum Leben und wir haben immer noch keine Elternzeit. Ein Rückschritt ist auch, dass der Stadtrat nicht einen Bruchteil der Forderungen erfüllt hat, die beim Frauenstreik 2019 eingereicht wurden. Nicht einmal eine Fachstelle für Gleichstellungsfragen, wie sie in anderen Städten üblich ist, hat die Stadt Biel geschaffen. Darum ist es umso wichtiger, dass wir dranbleiben und unsere Forderungen mit der Unterstützung der Bielerinnen und Bieler an diesem Frauenstreiktag noch einmal stellen.

Ist das Interesse der Bieler Bevölkerung am Frauenstreiktag seit 2019 nicht etwas erlahmt?

Das glaube ich nicht. Dass der Frauenstreiktag in den letzten Jahren in Biel nicht so präsent war, hat eher organisatorische Gründe. Für eine so grosse Veranstaltung muss man die nötigen Ressourcen haben – finanziell und personell. Der Arbeitsaufwand für eine so grosse Veranstaltung ist riesig. Und die Mitglieder des Organisationskomitees und ihre Helferinnen und Helfer arbeiten alle auf ehrenamtlicher Basis. Das zehrt an den Kräften. Zudem wurde viel Energie in kleinere Projekte gesteckt, die wichtig sind, jedoch weniger öffentlichkeitswirksam waren.

Das Bieler Komitee Frauenstreik, das der Veranstaltung bisher vorstand, hat sich ja deswegen im Januar aufgelöst. Wie ist es Ihnen trotzdem gelungen, den Frauenstreiktag vom 14. Juni zu organisieren?

Viele Organisationen, die bereits 2019 beteiligt waren, sind auch in diesem Jahr wieder dabei. Darunter die Unia Biel Seeland, der Frauenplatz und der Personalverband der Stadt Biel, aber auch viele der kleineren Gruppierungen wie zum Beispiel das ökofeministische Kollektiv La Bise, Cabbac oder das Amicale. Eine so lose Gruppierung von Organisationen unterschiedlichster Richtungen zu koordinieren, war nicht ganz einfach. Aber die Solidarität und das enorme Engagement aller Beteiligten erleben zu dürfen – das war einfach nur schön.

Was erhoffen Sie sich vom diesjährigen Frauenstreiktag?

Wir wissen, dass viele Menschen, Frauen wie Männer, mit der aktuellen Situation nicht zufrieden und bereit sind, sich für eine Veränderung zu einzusetzen. Am 14. Juni haben sie die Gelegenheit dazu. Gemeinsam können wir Präsenz zeigen, der Politik und der Justiz in Erinnerung rufen, was es zu verbessern gibt, und die Öffentlichkeit für unsere Anliegen sensibilisieren. Wer sich durch unsere Botschaften angesprochen fühlt, soll zum feministischen Streik ab dem Mittag auf dem Zentralplatz kommen und sich uns anschliessen.

Anna Tanner vor grauer Betonwand mit entschlossenem Blick

«Ein Rückschritt ist auch, dass der Stadtrat nicht einen Bruchteil der Forderungen erfüllt hat, die beim Frauenstreik 2019 eingereicht wurden.» Quelle: psj/a

08.06.2023 – Ajour.ch, Anna Tanner zum feministischen Streik: «Gleichstellung ist auch Gewaltprävention» Natalie Rüfenacht