Anna in den Medien

Unten starten, oben bilanzieren

Sie hat viele Pläne und ein kleines Budget. Nach 100 Tagen als Bieler Gemeinderätin zeigt sich: Anna Tanner ist keine Politikerin der grossen Gesten – sondern eine der leisen, systematischen Arbeit.

Anna Tanner empfängt die Medienschaffenden im Erdgeschoss, begleitet von der Musik aus dem Hallenbad. Bild: Dario Brönnimann

Es ist kein Zufall, dass Anna Tanner die Medienschaffenden am Schalter der AHV-Zweigstelle im Erdgeschoss des Kongressturmhauses empfängt. Der Ort sei ein Symbol, sagt sie, «für das, was mir wichtig ist: Zugänglichkeit». Dann geht es mit dem Lift in den 15. Stock. Oben, mit Blick über die Dächer der Stadt, zieht die neue SP-Gemeinderätin eine erste Bilanz. 100 Tage im Amt, zuständig für Bildung, Kultur und Sport. Der Ausblick ist weit, der Gestaltungsspielraum weniger. Tanner spricht offen über Ziele, Hürden und das, was in diesen drei Monaten bereits sichtbar geworden ist – und was eben nicht. Alles unter dem Motto «Gemeinsam für starke Schulen und niederschwellige Zugänge zu Kultur und Sport für die Bieler Bevölkerung».

Mehr Schule, mehr Sport

Eines ihrer wichtigsten Anliegen sei der Ausbau der Schulsozialarbeit. «Die Schulleitungen sagen uns klar, dass das ihre Arbeit extrem entlasten würde», sagt Tanner. Doch das Problem sei strukturell: Der Kanton beteilige sich gerade einmal mit zehn Prozent an den Kosten, das solle mehr werden. Tanner sieht als etwaige Lösung, das Thema über das Bildungsgremium von Seeland.Biel/Bienne zu platzieren. «Wir wissen, dass auch andere Gemeinden hier Handlungsbedarf sehen.» Selbst handeln – also die Schulsozialarbeit allein über die Stadt ausbauen – sei kaum machbar. «Das kostet viel», sagt Tanner. Also soll der Kanton das Taschengeld aufstocken.

Tanners Direktion ist riesig: über 900 Lehrpersonen, mehrere Dienststellen, Quartierarbeit, Kultur, Sport. «Unser Ziel ist es, dass möglichst viele Bevölkerungsgruppen von den Angeboten profitieren», sagt sie. Gleichzeitig räumt sie ein, es gebe Lücken. Menschen mit Beeinträchtigungen etwa, ältere Menschen oder Familien mit sprachlichen Barrieren hätten oft keinen Zugang zu bestehenden Angeboten. Als Beispiel einer Lösung nennt Tanner den Ferienpass, der neu auch für Kinder mit Beeinträchtigung zugänglich gemacht wurde. Oder die laufende Arbeit an Sportanlagen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Denn auch ältere oder ganz junge Personen sollen in der Sportförderung mitgedacht werden – mit niedrigschwelligen, angepassten Angeboten.

Ein weiteres Dossier, das Tanner ins Zentrum rückt: das Schulkonzept mit zweisprachigen Klassen, die Filière Bilingue. «Es ist wichtig, eine Evaluation dieser bilingualen Schule zu machen.» Die Nachfrage sei gross, das Projekt stosse auf Anklang und die Wirkung sei über Biel hinaus spürbar. Aber: ohne Klassenzimmer keine Schulen, ohne Hallen kein Hallensport. Hier wird es konkret – aber nicht euphorisch. Tanner sagt, dass Biel zu wenig oder marode Sportinfrastruktur habe, und die Schulen hätten ebenso Verbesserungspotenzial. Die neue Schule Champagne sei geplant, für die mehrzweckfähige «Multisport-Halle» fand kürzlich die Schlüsselübergabe statt. Doch sie warnt vor übertriebenen Erwartungen: Man könne nicht überall gleichzeitig sanieren oder neu bauen.

Kooperation statt Giesskanne

Im Kulturbereich will Tanner den Fokus auf mehr Miteinander legen: «Im Juni treffen wir uns mit allen grösseren Kulturinstitutionen», kündigt sie an. Das Ziel: «Schauen, wo Synergien möglich sind, auch bei der Kommunikation.» Tanner wolle hier mehr koordinieren – nicht zentralisieren, aber vernetzen. Als Beispiel nennt sie ein aktuelles Postulat im Stadtrat, das vom Gemeinderat verlange, die Zusammenarbeit der Kulturinstitutionen zu stärken. Auch Kooperationen mit anderen Städten seien denkbar – gerade, um überregionale Produktionen oder Fördermittel zu ermöglichen. Die Krux bei der Kulturförderung sei aber, dass mehr Finanzierungsgesuche eingehen, als das Budget zulässt. Der Spardruck herrsche auch in ihren Direktionen. Auf die Frage, ob sie auch schon gute Projekte habe ablehnen müssen, sagt sie: Ja. Es gebe viele Anfragen, oft gute Ideen. Aber man müsse Prioritäten setzen. Ein Bereich, dem Tanner viel zutraut, sind die Quartiere – insbesondere die «InfoQuartier»-Stellen. Dort gebe es heute schon niederschwellige Beratung, teilweise sozialarbeiterisch, teilweise informell. «Das ist keine klassische Animation, aber es wird immer mehr zu einem Ort, an dem Beteiligung stattfindet», so Tanner. Politische Teilhabe, Informationsarbeit, Sozialberatung – das alles lasse sich verbinden. «Wir sollten diese Chance nutze

Strategie zum Frühstück

Zur eigenen Rolle sagt Tanner: «Ich finde es ein Privileg, jetzt zu 100 Prozent für diese Stadt arbeiten zu dürfen.» Der Wechsel vom Stadtrat ins Exekutivamt habe ihre politische Praxis verändert. Weniger Parolen, mehr Kompromisse. «Natürlich verteidige ich meine Überzeugungen weiterhin – aber es geht jetzt um pragmatische Lösungen.» Sie erzählt vom Führungsworkshop, den sie zu Beginn ihrer Amtszeit besuchte. Die wichtigste Erkenntnis sei «Culture eats strategy for breakfast» gewesen, auf Deutsch «Kultur isst Strategie zum Frühstück». Nur wenn ein Team dieselben Werte teile, könne man gemeinsam in eine Richtung gehen. So habe sie etwa zusammen im Dialog mit den Mitarbeitenden das eingangs erwähnte Motto angepasst – von «chancengerechten Schulen» zu «starke Schulen». Zurück zum Anfang: Der AHV-Schalter steht für das, was ihr wichtig ist: nicht über die Köpfe hinweg regieren, sondern dorthin gehen, wo die Anliegen aufschlagen. Das klingt nach politischem Instinkt, ist aber bei ihr eher Methode. Klar ist: Tanner ist da, wo sie hinwill – und sie fängt unten an.

11.04.2025 – Ajour.ch: Unten starten, oben bilanzieren, Simon Leray