Anna in den Medien

Wir spüren die Konflikte der Welt in den Klassenzimmern

Zum Schulstart spricht die Bieler SP-Gemeinderätin Anna Tanner über die Entwicklungen und Herausforderungen in den städtischen Schulzimmern. Und die Bildungsdirektorin sagt, weshalb sie gegen ein rigoroses Handyverbot ist.

anna taner
Anna Tanner wurde letzten Herbst in den Gemeinderat gewählt. Nun ist sie zuständig für Bildung,
Kultur und Sport. Bild: Matthias Käser

Anna Tanner, wie zahlreiche Schülerinnen und Schüler der Stadt, hatten auch Sie diese Woche Ihren ersten Schultag als neue Bildungsdirektorin. Woran machen Sie fest, ob dieser Start erfolgreich war?

Anna Tanner: Das ist nicht einfach zu beantworten, weil das Schuljahr ja gerade erst begonnen hat. Es ist sicher positiv, dass wir vor einer Woche mitteilen konnten, dass wir die Schulsozialarbeit ausbauen. Bereits im Frühling haben wir mitgeteilt, dass wir die Tagesschulen stärken. Die schulergänzende Betreuung hat sich also verbessert. Es gibt sicher immer noch etwas zu optimieren, wir sind nie am Ziel. Doch den ersten Schultag konnten wir in allen Schulen gut beginnen, es war alles bereit.

Der Lehrermangel hat sich entschärft, für alle Bieler Kindergarten‑ und Schulklassen wurden genügend Lehrpersonen gefunden. Die Herausforderungen liegen woanders. Wo genau?

Die gesellschaftlichen Entwick- lungen und Problematiken spiegeln sind in den Bieler Schulen wider. Wir sehen vieles. Zu den Herausforderungen gehört der Zugang zu den sozialen Medien, der Handykonsum.

Über den Handykonsum an den Schulen war in letzter Zeit viel zu lesen. Ist das bereits in der Unterstufe ein Thema?

Ja, das beginnt schon in den unteren Klassen. Ich verstehe, dass viele Eltern daheim das Handy als Mittel sehen, um ihr Kind abzulenken. Etwa, wenn sie etwas erledigen müssen. Einmal für zehn Minuten ist das kein Problem. Wenn es sich aber häuft und zum Erziehungsmittel wird, dann schon.

Und das spüren dann die Bieler Schulen?

Ja, Lehrerinnen und Lehrer merken, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder abnimmt. Und man spürt, dass das Handy in der Schule omnipräsent ist. Die Kinder müssen lernen, mit den Inhalten umzugehen, weil der Zugang zu verschiedenen Themen so niederschwellig ist. Ich denke da an Gewalt. Sei es sexualisierte Gewalt oder toxische Gender-Stereotypen. Auch die Weltlage mit verschiedenen Kriegen schwappt in die Bieler Klassenzimmer herein. Konflikte zwischen Ukraine/Russland oder Gaza/Israel sind da und müssen aufgearbeitet werden. Gerade, weil bei einigen Kindern die Identifikation mit dem einen oder anderen Land stark ist und sie stark involviert sind in diese Fragestellungen.

Kommt eine Schule denn überhaupt an Kinder heran, die von zu Hause geprägt sind?

Ich denke, die Schule und die Tagesschule sind die Tür dazu. Nirgendwo sonst sind wir diesen Kindern und Jugendlichen so nahe. Auch die Quartierarbeit oder eine Beratungsstelle nehmen solche Funktionen wahr. Da kann ebenfalls ein Vertrauensverhältnis geschaffen werden. Es ist ganz wichtig, um eine zusätzliche Instanz zu haben. Um Themen, die zu Hause aufkommen, aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Herausfordernd sind auch familiäre Schwierigkeiten oder Mobbing. Wobei das nichts Neues ist. Das gab es schon früher. Oft hilft es, Fragen zu stellen: Was müsste sich ändern, damit dein Lernumfeld besser wäre? Was kannst du selbst machen? Wo brauchst du Hilfe?

Zurück zum Handy im Klassenzimmer: Eine Meinung zu einem Verbot scheint parteiunabhängig zu sein. Was halten Sie persönlich davon?

Ich bin gegen ein generelles Handyverbot. Ich finde, Kinder sollten den Umgang mit einem Handy lernen. Es sollte nicht reine Repression angewendet werden. Viele Lehrpersonen machen es bereits so, dass die Kinder das Handy vor dem Unterricht in ein Körbli legen müssen.

«Ich bin gegen ein generelles Handyverbot an Schulen.»

Nach dem Unterricht holen sie es wieder ab. In der Pause dürfen sie es haben. Ich finde, es sollte je nach Klasse so oder so gehandhabt werden. Wenn das Handy in einer Klasse kein Thema ist, können die Verantwortlichen liberaler sein. Viele Eltern wollen übers Handy Kontakt mit ihren Kindern halten.

Schwere Gewaltdelikte nehmen laut Statistik schweizweit zu. Wie sieht es mit Gewalt an den Bieler Schulen aus?

Die Gewaltstatistik ist steigend, ja. Die Frage ist hier aber, ob das tatsächlich eine gesellschaftliche Entwicklung ist oder ob mehr Fälle gemeldet werden, weil mehr darüber gesprochen wird. Das ist auch bei der häuslichen Gewalt die Frage.

Bei diesem Thema müssen die Schulen genau hinschauen?

Auf jeden Fall. Unsere Gesellschaft ist sehr gewaltbelastet. Es gibt Gewalt im öffentlichen Raum, es gibt Gewalt in den eige- nen vier Wänden und eben auch in der Schule – sei es körperliche, emotionale oder sexualisierte Gewalt. All diese Formen müssen wir behandeln, wenn sie da sind. Auch Prävention ist wichtig. Wenn es zusätzliche Massnahmen braucht, arbeiten wir oft mit dem Kinderschutz zusammen.

Ist die Stadt bereiter für solche Herausforderungen als noch vor ein paar Jahren? Es ist viel von Spezialprojekten zu hören. Letzten Frühling startete die Stadt ein Pilotprojekt, bei dem schwierige Schüler aus verschiedenen Klassen einmal pro Woche zusammen in den Wald gehen. Läuft das noch?

Ja, und es hat Erfolg, wir führen es weiter. Alle diese Präventivprojekte und Sondersettings entwickeln sich ja auch, es gibt neue Erkenntnisse. Wir müssen uns jeweils an neue Entwicklungen und aktuelle gesellschaftliche Strukturen anpassen. Bei der Schulsozialarbeit gab es gerade den erwähnten Ausbau. Erst vor ein paar Jahren wurde diese überhaupt eingeführt.

Wie gehen die Schulen mit schwierigen Kindern um? Früher besuchten sie eine Klein‑ oder Sonderklasse. Doch diese Spezialklassen wurden abgeschafft.

Wenn heute ein Kind auffallend ist, gibt es eine Abklärung. Wenn nötig, gibt es vom Kanton Geld, um diese Schülerinnen und Schüler in einem speziellen Programm zu unterrichten, etwa durch einen Sonderpädagogen. Das geschieht aber in einer Re- gelklasse.

Funktioniert das gut, wenn alle in einer Klasse integriert werden?

Es gibt sicher Argumente dafür und dagegen. Vor Kurzem war ich an einer Tagung von Bildungsdirektoren aus verschiedenen Kantonen. Es ging genau darum: Was funktioniert, was funktioniert nicht? Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass diese Schüler das Lernniveau der anderen nicht beeinträchtigen. Es kann aber sein, dass sich die Kinder mit einem speziellen Bedarf emotional nicht integriert fühlen. Sie merken stärker, dass sie anders sind. Damit umzugehen, ist eine grosse Herausforderung.

Wenn sehr viele Schüler eine spezielle Unterstützung brauchen, leiden da nicht diejenigen in einer Klasse, die nicht darauf angewiesen sind?

Das ist sicher individuell. Es gibt Kinder, die dank des diversen Umfelds hohe Sozialkompetenzen entwickeln. Sie erhalten ein Verständnis für andere Lebenslagen, was sehr wichtig ist. Andere Kinder müssen damit umgehen, dass es nicht immer für alle die genau gleiche Aufmerksam- keit gibt. Es gibt aber auch Förderprogramme für besondere Talente: etwa das Sport- und Kulturstudium ab der Oberstufe.

Ein anderes Thema, über das man viel liest, ist der Schulabsentismus. Kommt das in Biel vor?

Das betrifft sicher jede Schule. Biel ist da nicht ausgenommen. Doch es kommt nicht öfter vor als in anderen Schulen. Grün- de können sein, dass es jemandem schlecht geht, auch familiäre oder Schulprobleme sind mögliche Erklärungen, ebenso psychische Auffälligkeiten, die sich entwickeln. Auch nach diesen Sommerferien blieben Schülerinnen und Schüler der Schule in Biel fern. In den meisten Fällen waren die Absenzen begründet – beispielsweise aufgrund einer Krankheit.

Wie geht die Schule mit Schulabsentismus um?

Indem wir das Gespräch suchen, versuchen herauszufinden, weshalb das so ist. Das Kind soll dazu gebracht werden, wieder regelmässig in die Schule zu kommen. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Je früher interveniert wird, desto besser.

Aktuell sind auch sichere Schulwege. Wie weit ist die Stadt damit? Tempo 50 direkt vor einer Schule, oder 30 vor einem Kindergarten sind doch zu viel.

Das finde ich auch. Doch wir sind noch nicht vor jeder Schule so weit, wie wir sein möchten, doch wir sind dran. Es gehört zu unseren Legislaturzielen, die Schulwege sicher zu machen. Begegnungszonen direkt vor Schulen fände ich ideal, um eine hohe Sicherheit zu garantieren. Es geht immer auch um Interessenkonflikte: Wir müssen immer mit dem Quartier schauen, was möglich ist.

«In den Bieler Schulen trifft man nicht einfach auf 08/15-Geschichten»: Anna Tanner (rechts) im Gespräch mit BT-Redaktorin Deborah Balmer. Quelle: Matthias Käser

«Wenn heute ein Kind auffallend ist, gibt es eine Abklärung.»

Der Zürcher FDP‑Stadtrat Filippo Leutenegger liess in der Stadt Zürich vor einigen Schulhäusern Poller einbauen, weil Eltern immer wieder mit dem Auto vorfuhren.

Das wusste ich nicht. Diese Idee schreibe ich mir auf, Moment.

Der Stadt geht es finanziell schlecht. Ist das etwas, was sich auch auf die Schulen auswirkt?

Ja, auf jeden Fall auf die Infrastruktur. Neben den vielen Schulgebäuden, die einer dringenden Sanierung bedürfen, würden wir eigentlich gerne noch mehr Schulsozialarbeit anbieten. Es gibt aber auf kantonaler Ebene Vorstösse, damit das möglich wird. Es geht immer darum, dass sich Lehrpersonen auf ihre Aufgaben konzentrieren können. Der Schulalltag muss gewährleistet sind. Das ist in den Bieler Schulen sicher der Fall, aber es ist eine riesige Arbeit.

Vor einigen Jahren zogen Familien noch aus der Stadt weg, wenn ihre Kinder in die Schule kamen. Da hat sich etwas ge- ändert.

Ich denke, dass sich die gesellschaftliche Struktur in Biel verändert hat. Biel wirkt grossstädtisch, hier ist die ganze Welt auf kleinem Raum vereint. Viele mögen das, sie geben sich im Quartier ein und da gehört die Schule einfach dazu. Nicht zuletzt gibt es in Biel sehr viele Freizeitangebote, was für Familien attraktiv ist.

Ein besonders beliebtes Schulangebot ist die zweisprachige Schule Filière Bilingue, kurz Fibi. Die Wartelisten sind lang, deshalb soll das Angebot ausgebaut werden. Gibt es hier Neuigkeiten?

Der politische Entscheid im Gesamtgemeinderat gilt für die laufende Periode der Fibi. Wie es danach weitergeht, ist offen, denn dafür braucht es ein konkretes Projekt. Und dieser Entscheid ist im Gemeinderat noch nicht gefällt worden, das Dossier noch nicht bereit. Die Chancen, dass Filière Bilingue ausgebaut wird, sind intakt. Wir haben vom Kanton sehr positive Rückmeldungen erhalten, er findet das Projekt gut und will es weiterhin unterstützen. Auch vonseiten der Schulen gibt es positive Signale. Es ist für mich eine Idealvorstellung, wenn wir dem Bedarf gerecht werden und die Schule in verschiedenen Quartieren anbieten könnten.

Die Stadt wirbt ja damit, eine attraktive Arbeitgeberin zu sein. Weshalb ist es für Lehrpersonen reizvoller, in Biel zu arbeiten als in einem kleinen Seeländer Dorf?

Sehr attraktiv ist sicher der Bilinguismus. Es ist spannend, in einem zweisprachigen Umfeld zu unterrichten. Daneben ist Biel einfach eine spannende Stadt, mit einer spannenden Bevölkerungszusammensetzung. In der Schule trifft man also nicht einfach auf 08/15-Geschichten. Lehrpersonen haben mit Menschen aus den verschiedensten Teilen der Welt zu tun, sind kon- frontiert mit verschiedenen Sprachen, mit verschiedenen menschlichen Schicksalen und Geschichten. Mit Menschen, die im Leben mehr Herausforderungen hatten als andere. Das macht es vielfältig. Doch Lehrerinnen und Lehrer müssen das wollen und sich darauf einlassen können. Wer Biel gern hat, der fühlt sich auch als Lehrperson in diesem Umfeld wohl. Die Anstellungsbedingungen sind vom Kanton vorgegeben. Etwa, was Löhne oder die Anzahl Ferienwochen angeht. Die Bieler Schulleitungen sind aber bemüht, auf die Bedürfnisse einzugehen. Sei es für eine Elternzeit oder eine Auszeit.

Wie wird dem Stress der Lehrer entgegengewirkt?

Das geschieht in den Schulenselbst. Die grösste Verantwortung tragen die Schulleitungen, diese sind intensiv in den Ge- sprächen mit den Lehrerinnen und Lehrern. Auf Niveau Direktion finde ich Wertschätzung und ein offenes Ohr sehr wichtig. Ich war ein paar Mal bei den Schulleitungssitzungen dabei. Dort wird mir zurückgemeldet, wie es läuft, was es braucht, wo der Schuh drückt. Dieser Austausch und das Echo sind mir wichtig. Mit gewissen Schulen habe ich mehr Kontakt, vielleicht, weil dort ein Bauprojekt läuft – etwa im Schulhaus Platanes. Dort will ich wissen, was die Bedürfnisse der Lehrpersonen sind: Etwa, was den Schulraum und die Umgebung angeht.

«Biel ist einfach eine spannende Stadt.»

Sie sind also nah dran.

Ja. Kürzlich waren wir in einer Klasse, haben einen Teil des Unterrichts mitgemacht. Das war sehr spannend. Ich versuche auch bei Veranstaltungen für Lehrpersonen dabei zu sein. Vor den Ferien war ich in einem Theaterstück der Rittermatte zum Thema Mobbing.

Was sind Ihre politischen Prioritäten der nächsten Jahre?

Meine Hauptthemen sind die Fibi und der Ausbau der Schulsozialarbeit. Das alles braucht aber viel Arbeit und viel Zeit.

Zur Person

  • Anna Tanner hat Jahrgang 1989.
  • 2024 wurde sie in den Bieler Gemeinderat gewählt. Seit dem 1. Januar 2025 ist sie für die Direkti- on Bildung-, Kultur- und Sport ver- antwortlich.
  • Vor ihrer Wahl war sie Co-Prä- sidentin der SP Kanton Bern und Präsidentin der Geschäftsprü- fungskommission im Bieler Stadt- rat.
  • Sie hat einen Masterabschluss in Sozialer Arbeit.
  • Sie arbeitete in der Opferhilfe im Frauenhaus Bern. (bal)
Anna Tanners Steckenpferde sind die Schulsozialarbeit und die zweisprachige Schule Filière Bilingue. Bild: Matthias Käser

23.08.2025 – Ajour.ch: Wir spüren die Konflikte der Welt in den Klassenzimmern, Deborah Balmer